Montag, 25. Juni 2018

Denkimpulse: Selbstidentität und Leihidentität / F.A.Z. Leserbrief 23.6.2018

von F.A.Z. veröffentlicher Leserbrief  23.6.2018


Spätestens hier weckte mich der so klare und klug verfasste Artikel von Gregor Schöllgen aus einer unklugen Haltung auf. Nämlich raus aus der Resignation, und den Wahlrecht bei der nächsten Gelegenheit, ob es eine Kommunalwahl, oder eine Landtagswahl, oder eine Bundestagswahl ist, wieder Gebrauch zu machen. Die letzte Wahl in USA und deren aktuelle Folge haben mich zuletzt wachgerüttelt. Es heißt aber nicht, dass ich die AfD wähle werde. Aber ich werde mir gut nach einer Alternative aussuchen. Gibt es eine solche in Deutschland, in Europa, für die ich wählen kann? Dank den Hinweisen Gregor Schöllgens in seinem Artikel erkenne ich drei Antworten. Die eine ist in der Selbstidentität zu finden. Die zwei anderen sind die Identitätsstiftungen, einerseits von den Exekutiven, die das Land und sein Volk lenken; und anderseits von den sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Ordnungen aus meinem Umfeld im Lande. In der jetzigen Aufgeregtheit lauert die Gefahr für die Selbstidentität zum Nationalismus, zum Extremismus. Oder zu einer Leihidentität, zum Beispiel über die Fußballhelden in den nationalen Trikots. Ob diese Fußballer eine Selbstidentität haben, ist es eine andere Frage der Abseitsfalle. Bei den neuangekommenen Migranten ist die Bildung einer Selbstidentität noch höchst labil – zwischen ihren Herkunftsländern und dem Gastland – dazu die eigene Orientierungslosigkeit und die unvermeidbare Unsicherheit in dem noch fremden Alltagsleben. Ich erinnere mich noch deutlich an meine erste Zeit in Deutschland vor mehr als 50 Jahren: wie lebe ich plötzlich von einem totalitären System, wo ich aufwuchs und mein Gehirn von den Desposten und Gewalt quasi gewaschen wurde, dann in ein Gastland, dessen Grenze der sozialen, politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Freiheit unendlich schien? Zu welcher Kultur stehe ich? Hier kommen die restlichen zwei Antworten zur Identitätsstiftung. Es kommt auf meine Erwartungshaltung an. Denn es ist menschlich, dass die politischen Exekutiven, in Abhängigkeit ihrer Reifegrade, an Macht, an Moral, an ihre Interesse, persönlich und parteiabhängig, greifen. Und daraus handeln. Sie wurden ja von ihrem Volk gewählt. Und sie gestalten entsprechend die Ordnung des Landes. Also ich trage eine Selbstverantwortung für meine Erwartungshaltung. Klagen, Zurückziehen ins Schneckenhaus sind keine Alternative. Und letztlich für meine psychische Gesundheit, die jeder Mensch anstrebt. Gregor Schöllgen regt mich zu einer Schlussfrage an: „Im Abendland? Wenn die Karre im Dreck steckt, bekommt das Zugtier die Schläge, oder der Lenker selbst?“
 
Thanh-Nam Nguyen

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